Als wir vor über 15 Jahren die Arbeit in Ulaanbataar aufnahmen lernten wir schnell, dass die Familienstrukturen in der mongolischen Gesellschaft zwar sehr wichtig sind, diese aber oft nicht dem uns vertrauten Modell entsprechen. So ist es z.B. ganz normal und gesellschaftlich akzeptiert, dass eine Frau Kinder von unterschiedlichen Männern hat. Oftmals sind auch nicht die Eltern die Erzieher ihrer Kinder, sondern die Grosseltern, welchen diese Aufgabe aus verschiedenen Gründen übertragen wurde.
In den letzten Jahren wurden wir leider immer häufiger mit einem neuen Phänomen konfrontiert: Mütter oder Väter, welche ihre Kinder aus erste Ehe zu ihren eigenen Eltern abschieben, weil der neue Partner/die neue Partnerin, diese Kinder nicht akzeptiert.
Derzeit betreuen wir fünf Grosseltern (vorwiegend Grossmütter), die sich anstelle der Eltern um 10 Kinder kümmern.
Erzählt von Gantuul Mishig & Zaya Okhinoo, aufgeschrieben von Martina Zürcher
Der 15-jährige Enkhbayar hat sehr viel mehr Verantwortung zu tragen als dass er es für sein Alter tun sollte. Er kam zu Gantuul, so erzählt uns die Psychologin, die seit gut einem Jahr auf der Bayasgalant-Tagesstätte arbeitet, mit der Frage, was mit ihm und seinen Cousinen passiert, wenn ihre Grossmutter stirbt. Allerdings stellte er die Frage nicht in diesen Worten. In der Mongolei wird über den Tot selten offen gesprochen. Der Junge sagte viel mehr, dass er sich Sorgen um die Gesundheit der Grossmutter mache.
Die Situation spitzt sich zu
Im selben Moment wie Gantuul uns von den drei Kindern, die in der Obhut der kranken Grossmutter leben erzählt, klingelt das Telefon. Nendaa, die Sozialarbeiterin am anderen Ende der Leitung, spricht hastig. Sie wurde kurz zuvor genau zu dieser Familie gerufen, die Grossmutter könne plötzlich nicht mehr sprechen und ihr sei übel. Der Krankenwagen, der gerufen worden war, hat die Frau nicht mitgenommen – für Menschen die offensichtlich in Armut leben leider viel zu oft der Normalfall. Nun ist Nendaa mit ihr in einem Taxi unterwegs ins Krankenhaus und fragt um Rat, respektive ob Bayasgalant die Finanzierung ihrer Behandlung übernimmt. Ohne lange nachzudenken sagen wir die Unterstützung zu.
Im Spital stellten die Ärzte später fest, dass die Frau einen Hirnschlag erlitten hatte. Hinzu kommen massive Probleme mit Herz, Nieren, Speicheldrüsen. Enkhbayar, der zusammen mit zwei jüngeren Cousinen in der Obhut der Grossmutter lebt, hatte den schlechter werdenden Gesundheitszustand seiner Oma also richtig bemerkt.
Tiefgehende Narben
Dem Hirnschlag sei, so erfahren wir ein paar Tage später, ein massiver Streit mit ihrer eigenen Tochter, nennen wir sie hier Ajuna, vorausgegangen. Die alkoholabhängige Ajuna sei einzig mit der Absicht auf Besuch gekommen, ihre eigene Tochter, die sie vor mehreren Jahren bereits zu ihrer Mutter abgeschoben hatte, zurück zu holen. Nicht aus Liebe, oder aus Bedauern. Sondern weil Ajuna einen Babysitter für das Neugeborene und eine Haushälterin für sich brauchte. Die Grossmutter hätte sich geweigert, ihre Enkeltochter mitzugeben, zumal das Kind selbst unter keinen Umständen zur Mutter und deren gewalttätigen neuen Mann zurück wollte.
Im ersten Augenblick steht man solchen Situationen verständnislos gegenüber. "Wie kann sie nur? Hat sie keine Muttergefühle?" Mit den Puzzleteilen, die wir nach und nach zusammensetzten, veränderten sich dann aber auch auch unsere Fragen. Was muss in einer Mutter vorgehen, die nur noch diesen Ausweg sieht? Und: Wie kann dieser Teufelskreis beendet werden?
Von Generation zu Generation
Die Grossmutter selbst hatte früher, als sie noch jung war, auf einer der Müllhalden von Ulaanbaatar gelebt, oder besser gesagt: überlebt. Gehaust hatte die Familie in dreckigen Verschlägen, zusammengebastelt aus Abfall. Das Essen kam ebenfalls aus dem Müll. Sie hatte als junge Mutter selbst kaum Verantwortung für ihre Kinder, welche alle unterschiedliche Väter haben, übernehmen können was natürlich auch Narben bei ihren eigenen Töchtern hinterlassen hat. „Die Grossmutter war früher auch keine Heilige,“ seufzt Gantuul und bringt damit das Problem auf den Punkt: Die Familienmuster werden unweigerlich von Generation zu Generation weitergegeben. Und mit grosser Wahrscheinlichkeit hat auch die Grossmutter negativ geprägte Erfahrungen aus ihrer eigenen Kindheit.
Das Glück im Alkohol, also in einer Sucht zu suchen, ist ein Weg, dem Gefühl der Vernachlässigung, welches auch im Erwachsenenalter haften bleibt, zu entkommen. Andere werden aus Angst, verstossen zu werden, zu 'Everybodies Darling' und tun alles, was von ihnen verlangt wird, oder sind über ein gesundes Mass hinaus perfektionistisch. Wieder andere rebellieren ein Leben lang, haben Mühe sich an Regeln zu halten und kommen immer wieder mit dem Gesetz in Konflikt. Oder haben ein so schlechtes Selbstwertgefühl, dass sie sich nicht auf tiefere Beziehungen einlassen können, aus Angst, nicht zu genügen. Von den Eltern abgeschoben oder vernachlässigt zu werden hinterlässt in jedem Kind unweigerlich seine Spuren.
Das Prinzip 'Hoffnung'
Bayasgalant wird in solchen Fällen zur Ersatzfamilie. Wir können als Institution so gut wie möglich versuchen Halt, Zuwendung und ein positives Selbstwertgefühl zu vermitteln. Wir sind sozusagen das Desinfektionsmittel in der Wunde. Wir helfen, die Wunde ohne eitrige Entzündung heilen zu lassen und hoffen, dass die Kinder es dank unserer Unterstützung schaffen, aus dem Teufelskreis der Vernachlässigung und im besten Fall der Armut auszubrechen.
Aber Elternersatz, dass sind wir nie. Die Narben ganz heilen, das können wir nicht.
Im konkreten Fall heisst dies: Bis es der Grossmutter wieder besser geht (der Schlaganfall hat sich zum Glück einzig aufs Sprachzentrum niedergeschlagen), werden die Kinder durch unser Team und die Nachbarn betreut. Dann hoffen wir, das Rennen gegen die Zeit zu gewinnen. Mit dem Start einer Berufsausbildung im nächsten Sommer ist es möglich, dass der 15-jährige Enkbayar vor den Behörden bereits als Erwachsen gilt und er so mit unserer Unterstützung das Recht erhält, mit seinen zwei Cousinen (derzeit 12 und 9 Jahre alt) alleine wohnen zu dürfen. Ansonsten sind wir der Macht der mongolischen Sozialbehörde ausgeliefert, die findet: Familienzusammenführungen sind in jedem Fall das Beste, auch gegen den Willen der Kinder.
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